Die visualisierte Bleiproblematik im Gebäudebestand
Abseits des theoretischen Wissens um das Verbot von Bleileitungen in der Trinkwasserversorgung im zuführenden Bereich existiert offenbar immer noch ein Restbestand, der von Hausverwaltungen und Eigentümern gerne ignoriert wird. Komplettsanierungen funktionierender Systeme aufgrund einer Schwermetall-Problematik werden aus Kostengründen nur dort veranlasst, wo anderweitige Gegebenheiten eine solche unabdingbar fordern.
Die Information der Konsumenten, die oftmals nicht über den Zustand ihrer Trinkwasserversorgungsanlage Bescheid wissen und somit auch nicht in einen Entscheidungsfindungsprozess zur Sanierung eingebunden werden, bleibt oft aus. Speziell im gesundheitsgefährdenden Bereich ist diese Vorgehensweise bereits riskant. Anhand eines Beispiels soll die Situation im gründerzeitlichen Baubestand Wiens bezüglich der Bleiproblematik analysiert werden, um eine Übersicht zu gewinnen, wo allenfalls informativ und sanierungstechnisch anzusetzen wäre.
Unter der Gründerzeit versteht man allgemein den Zeitraum zwischen der Revolution 1848 und dem Börsenkrach 1873, wobei sich für die Stadt Wien diese Zeitspanne bis 1895 erstreckt [1]. In diese Zeit fallen neben wirtschaftlichen Unternehmensgründungen auch zahlreiche Um- und Neubauten im Wohn- und technischen Bereich. Der Wiener Gebäudebestand beinhaltet somit einen erheblichen Anteil an Altbaubestand, der ein erhaltenswürdiges Gut darstellt. Die Statistik Austria GmbH weist für Bauten vor 1919 folgende Verteilung aus [2]:
Jeweils über 70 % des Gebäudebestandes in Leopoldstadt, Innere Stadt, Alsergrund und Neubau wurde vor 1919 errichtet. Dazu kommen jeweils über 60 % auf der Wieden und in Mariahilf und über 50 % in Margareten, Rudolfsheim-Fünfhaus und Landstraße. In absoluten Zahlen sind das in den genannten Bezirken in Summe 15.212 Gebäude bei einem Gesamtbestand von insgesamt 25.045, somit etwa 60 % im Durchschnitt (ganz Wien weist im Mittel etwa 38 % Bauten vor 1919 auf). Dabei könnte noch genauer differenziert werden, welcher Bauperiode die Gebäude vor 1919 zuzurechnen sind. Ein entsprechender Kataster wird von der Stadt Wien soeben angelegt und ist auszugsweise für den Bezirk Innere Stadt bereits vorhanden bzw. wird über ViennaGIS [3] visualisiert. Anbei findet man ein Beispiel aus dem Bereich rund um den Dom. Dabei wird zwischen folgenden Bauperioden unterschieden (Abbildung 1).
Für die vorliegende Thematik ist diese feine Aufgliederung aber vermutlich vernachlässigbar. Der Einbau von Wasserleitungen erfolgte nach zaghaften lokalen Anfängen ab 1804 (Albertinische Wasserleitung) und 1835 (Kaiser-Ferdinands-Wasserleitung) großräumig bei Einführung der Wiener Hochquellwasserleitungen 1873 (I.) und 1910 (II.). 1888 waren bereits 90 % der damaligen Wohnhäuser an das Netz angeschlossen. Der Einbau hausinterner Wasserleitungen jeweils bis zur Bassena kann somit zeitlich auf 1873 bis 1919 eingegrenzt werden. Dabei ist es unerheblich, ob in ein bestehendes Gebäude Wasser eingeleitet oder Rohrleitungen in den Neubau integriert wurden, die angewendete Technik war dieselbe: Bleileitungen wurden bis 1938 verbaut [4].
Toxische Wirkung von Blei
Die Toxizität von Blei und Bleiverbindungen kann sich bei Menschen akut oder chronisch äußern. Zu akuten Erscheinungen kommt es ab einer Aufnahme von mindestens 5 g als Einzelgabe, wohingegen eine permanente Aufnahme von etwa 1 mg pro Tag zu chronischen Erscheinungen führt. Blei führt zu Schädigungen des Nervensystems, beeinträchtigt die Blutbildung durch Hemmung freier Enzyme und induziert Beschwerden des Magen-Darm-Traktes (Krämpfe) sowie Schädigung der Nieren. Blei reichert sich im Körper vor allem in Knochen an und verdrängt dort Calzium. Es gilt als teratogen (kann Schädigungen beim Embryo hervorrufen) und cancerogen (kann Krebs verursachen) . Blei bzw. seine Verbindungen können über Inhalation, Hautkontakt und Ingestion (oral) aufgenommen werden. Weiters ist Blei plazentagängig. Eine Blutkonzentration von mehr als 150 μg.l-1 führt bei Kindern bereits zu einem Abfall der intellektuellen Leistungen, des Lernverhaltens und zu psychomotorischen Defiziten. Im Extremfall kann Enzephalopathie (krankhafte Veränderung des Gehirns) eintreten, die entweder tödlich endet oder zu schweren neurologischen Schäden führt.
Blei aus Wasserleitungen wird besonders dann problematisch, wenn das Wasser weich oder sauer ist. Sonst bildet sich in Wasser schwer lösliches Blei(II)Karbonat PbCO3 an den Rohroberflächen, das allerdings mechanisch abgetragen wird und so ins Trinkwasser gelangen kann. Für lösliches Blei werden Konzentrationen bis zu 3.000 μg.l-1 Trinkwasser kolportiert [5]. Zum Vergleich: Seit 1. Dezember 2013 gilt ein maximal zulässiger Grenzwert für Blei im Trinkwasser [6] von 10 μg.l-1. Bei einer Belastung von 500 μg.l-1 Blei im Trinkwasser und einem empfohlenen Tageskonsum von 2 l Wasser wird die angegebene Grenze zur chronischen Toxizität für Erwachsene bereits überschritten. Für Säuglinge und Kinder gilt eine weit geringere Grenze.
In Wien gilt für Trinkwasser eine durchschnittliche Härte von 6 – 11 °dH (vereinzelt durch Einspeisung von Grundwasser bis zu 16°dH) [7]. Nach gängiger Auffassung wird Wasser bis zu 10 °dH als weich bezeichnet. Somit kann in Wien die Ausbildung einer Blei(II) carbonatschicht in der Trinkwasserverrohrung kaum erwartet werden.
Bleiverrohrungen im Bestand
Es ist davon auszugehen, dass in einem erheblichen Teil der Wiener Gebäude aus der Bauperiode vor 1919 noch Bleiverrohrung oder Reste davon auffindbar sind, welche in der Trinkwasserzufuhr in Betrieb sind. Um diese Annahme zu prüfen, wurden fünf Wohngebäude nach Zufallsmethode aus dieser Bauperiode als Testobjekte herangezogen. Es handelt sich dabei um Gebäude mit folgenden Parametern (Tabelle 1): Alle ausgewählten Objekte sind in gutem bis sehr gutem Zustand, werden regelmäßig betreut und von Professionisten gewartet. Keines besitzt eine zentrale Trinkwasser-Erwärmungsanlage. Sämtliche Gebäude wurden in den öffentlich zugänglichen Bereichen ortsaugenscheinlich und ohne Bauteilöffnung begangen. In allen konnten mehr oder weniger Reste einer Bleiverrohrung im Zulaufbereich festgestellt werden (Abbildung 2).
In allen Testobjekten zeigte sich die Verwendung von Blei zumindest als Material für die Unterputz-Steigleitungen. Sofern über die Jahre kein Schaden ausgebessert wurde, kann daher von einem gewissen Anteil an Blei in der Hausinstallation ausgegangen werden. Der Zustand der Zuleitungen innerhalb der Wohnungen ist komplett unbekannt, dürfte sich aber ähnlich gestalten.
Alle fünf Objekte sollen beprobt und auf Blei im Trinkwasser untersucht werden. Da das ein aktuell laufender Prozess ist, können noch keine Ergebnisse vorgelegt werden. Keines der Objekte wurde bisher jemals untersucht.
Es ist geplant, aufgrund der Messergebnisse abzuschätzen, wie hoch ein mögliches Kontaminationsrisiko in den einzelnen Bezirken Wiens ausfallen könnte, wobei es durch die spezifische Ausweisung der Bauperioden durch die Statistik Austria GmbH zu einem Minderbefund kommen kann. Die nächstjüngere Bauperiode wird als 1919-1944 ausgewiesen. Blei wurde jedoch nur bis 1938 verbaut (Tabelle 2). Somit wird die Zeit zwischen 1919 und 1938 nicht ausgewertet. Im Gegenzug ist zu berücksichtigen, dass repräsentative Gebäude speziell der Inneren Stadt auch verwaltungstechnischen, gewerblichen oder kulturellen Zwecken gewidmet sind und oft keine Wohngebäude darstellen. Dadurch sind zwar keine oder weniger Bewohner direkt betroffen, allerdings wären hier Dienstnehmer und sonstige Nutzer involviert, deren potenzielle Bleiaufnahme durch die von einem Wohnhaus abweichende Nutzung des Trinkwassersystems gesondert zu untersuchen wäre.
Betroffene Bevölkerung
Laut Angaben der Stadt Wien [8] wohnten 2015 etwa 868.000 Männer und 930.000 Frauen in Wien. Betrachtet man nur die Bevölkerung in Gebäuden der Bauperiode vor 1919 – eine gleichmäßige Wohndichte vorausgesetzt – erhält man jene Ergebnisse, die in Tabelle 2 gelistet sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass 2015 rund 492.000 Personen, das sind 27 % der Wiener Bevölkerung, in Gebäuden lebten, deren Trinkwasserinstallation zumindest teilweise Bleiverrohrungen aufweist. Dabei wird keine Aussage über die Anzahl der Kinder getroffen, die besonders gefährdet wären. Die Wiener Bevölkerung weist einen Frauenüberschuss aus, der sich in dieser Abschätzung fortsetzt. Ob sich dadurch (durchschnittlich geringeres Körpergewicht von Frauen) ein höheres Gefährdungspotenzial der Gesamtbevölkerung ableiten lässt, bleibt bei den derzeit vorliegenden Grundlagen offen.
Conclusio
Blei im Trinkwasser wurde bereits öfters thematisiert, jedoch zumeist mangels Bewusstsein für die Thematik wieder beiseitegeschoben. Im besten Fall erfolgen Sanierungsversuche an leicht zugänglichen Stellen, die je nach Vorwissen des ausführenden Gewerkes besser oder mangelhaft ausfallen. Schadenssanierungen bleiben aufgrund der gängigen Ansicht der Versicherungsgesellschaften räumlich eng begrenzt und führen zu Stückwerk in der Verrohrung. Das wiederum birgt das Potenzial in sich, durch leitende Verbindung zweier oder mehrerer Metalle in Kontakt zu Elektrolyten im Trinkwasser Mobilisierungen von Metallen bzw. Korrosion zu verursachen. Komplettsanierungen werden vielfach aus Kostengründen vermieden. Dazu ist anzumerken, dass es dem Gebäudebetreiber obliegt, eine negative Beeinflussung des Trinkwassers hintanzuhalten [9]. Weiters stellt der OGH mit Entscheidung 2 Ob 243/14w in Frage, dass die Beauftragung einer Fachkraft zur Überprüfung grundsätzlich nicht notwendig sei, wenn der Bauzustand für den Halter das Vorliegen eines Gebrechens nicht vermuten lässt [10].
Die Bedenken vor Sanierungen als einzige Alternative sind jedoch insofern unbegründet, als vermutlich bei Kontamination regelmäßiges Spülen längstens alle drei Tage bereits Abhilfe verschaffen könnte, sofern dem Bewohner entsprechende Mitteilung darüber gemacht wird. Wird diese Mitteilung unterlassen und ist ein allfällig erhöhter Wert offensichtlich, sind die betroffenen Wohnungsinhaber berechtigt, Mietzinsminderung, Schadenersatz und die Durchsetzung von Instandhaltungsarbeiten zu verlangen. Insbesondere Gebäudeeigentümer und Liegenschaftsverwaltungen sind hier gefordert, im eigenen Interesse bereits Vorkehrungen zu treffen und sich selbst über ihre Sorgfaltspflichten zu informieren. Die vorliegende Arbeit soll in diesem Sinn einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung leisten, indem über das ganze Gemeindegebiet Wiens eine Visualisierung der Bleiproblematik erstellt wird, wobei darauf hinzuweisen ist, dass aus technischen und datenschutzrechtlichen Gründen keine liegenschaftsgenauen Informationen verfasst werden können.
[1] https://wien.gv.at/wiki, 9.5.2017
[2] Gebäude 2011 nach dem Errichtungsjahr (Bauperiode) des Gebäudes und politischen Bezirken, 4.12.2013
[3] https://www.wien.gv.at/kulturportal/public/, http://wien.gv.at/viennagis/, 9.5.2017
[4] https://www.wien.gv.at/wienwasser/ qualitaet/blei.html, 9.5.2017
[5] Hans Marquardt, Siegfried G. Schäfer (Hrsg.): Lehrbuch der Toxikologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1997, ISBN 3-8274-0271-9, S. 513–517.
[6] Trinkwasserverordnung BGBl. 304/2001
[7] https://www.wien.gv.at/wienwasser/ qualitaet/haerte, 9.5.2017
[8] https://www.wien.gv.at/statistik/ pdf/wieninzahlen.pdf, 10.5.2017
[9] Trinkwasserverordnung BGBl. 304/2001
[10] Riepl V., Die Auswirkung der ÖNORM B 1300 auf den Entlastungsbeweis gemäß § 1319 ABGB, Immolex, pp. 342-347, 2016
[11] Es ist zu beachten, dass damit aber keineswegs als sichergestellt gelten kann, den Grenzwert der Trinkwasserverordnung von 10 μg.l-1 auch einzuhalten